„Parteien sollten konkreter werden“

Die Europa-Union Vogelsberg will Menschen für ein vereintes Europa begeistern. In Zeiten, in denen der Krieg auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt ist, populistische Kräfte wachsen und ein Rechtsruck bei der Europawahl am 9. Juni droht, ein umso wichtigeres Anliegen. Im Kreis hat die Bürgerinitiative rund 80 Mitglieder. Aktueller Vorsitzender ist Stephan Paule, Alsfelder Bürgermeister, überzeugter Europäer und Christdemokrat. Letzteres jedoch spiele bei seinem Amt bei der Europa-Union keine Rolle, wie er betont. Denn sie ist überparteilich.

 

Von Christine Heil

Quelle: Oberhessische Zeitung vom 03. Juni 2024

 

Stephan Paule ist der Vorsitzende der Europa-Union Vogelsberg. Foto: Christine Heil

Wie können Sie als Europa-Union die Menschen im Vogelsberg für die EU begeistern?

Wir bieten Veranstaltungen an. Zum Beispiel Vorträge, bei denen verschiedene Europapolitiker zu Gast sind und informieren. Diese Veranstaltungen sind gut besucht. Zwischen 20 und 50 Personen, die in der Regel aber schon vorher europainteressiert waren, nehmen immer daran teil. Dieses Jahr haben wir außerdem im Vorgriff auf die Europawahl mit der Alsfelder Max-Eyth-Schule und der Albert-Schweitzer-Schule eine große Podiumsdiskussion mit den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe veranstaltet. Dazu hatten wir sechs Vertreter der für die Europawahl sich bewerbenden Parteien eingeladen. Außerdem führen wir Fahrten zu europäischen Institutionen durch, im vergangenen Jahr nach Straßburg, dieses Jahr wird es nach Brüssel gehen.

Wer nimmt an diesen Fahrten teil?

Für diese Fahrten versuchen wir, zunächst immer die Kreis- und Stadtjugendvertretungen zu begeistern. Für dieses Jahr haben wir auch schon Anmeldungen aus dem Stadtjugendparlament Alsfeld, dem Kreisjugendparlament und dem Jugendparlament in Schlitz. Und natürlich fahren auch weitere Mitglieder der Europa-Union und Städtepartnerschaften bei diesen Fahrten mit.

Helfen solche Fahrten, »Europa« besser zu verstehen?

Dieses Jahr waren wir bereits mit Schülern aus dem Stadtjugendparlament und der Albert-Schweitzer-Schule bei der Europäischen Zentralbank und in der Paulskirche in Frankfurt. Ich glaube schon, dass sie durch die Begegnungen mit den Institutionen und den Inhalten, die dort vermittelt werden, eine bessere Vorstellung davon bekommen, was Europa ist und warum wir Europa als vereinigtes Europa brauchen.

Bei der Europawahl wird ein Rechtsruck befürchtet. Wo kommt das her und was sagt uns das?

Da muss man zwischen den unterschiedlichen europäischen Ländern differenzieren. Es gibt Megatrends, wie das Anwachsen populistischer Strömungen. Dabei spielt natürlich die europaweit diskutierte Frage der Migration oder Flüchtlingskrise eine Rolle. Die demokratischen Parteien müssen, glaube ich, sehr, sehr deutlich machen, was gute Migrationspolitik ist, um den Populisten den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Ein weiterer Punkt ist: Bei etwas sehr Abstraktem, was jenseits der verstehbaren nationalen Ebenen liegt, wie dem europäischen Gedanken, fällt es einem Populisten immer leicht zu sagen: »Da wird nur unser Geld verbraucht und in andere Länder umgeleitet« – weil man das nicht empirisch nachweisen muss. Das kann man einfach behaupten. Das wird von manchen Leuten dann auch geglaubt, die sich vielleicht an der einen oder andere Stelle abgehängt fühlen. Aber das, was die Populisten sagen, stimmt ja nicht.

Was würden Sie dieser Argumentation entgegnen?

Das Wesentliche, auch für den wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahre, nicht nur Deutschlands, sondern Gesamteuropas, ist der gemeinsam gegründete Markt. Im Vergleich mit China, Indien und den USA sind wir ein kleiner Player, selbst alle Mitglieder der europäischen Union zusammen. Und doch sind wir wirtschaftlich riesenstark und haben in vielen Bereichen Leuchtturmfunktion, bei der repräsentativen Demokratie und auch beim Sozialstaat.

In Deutschland wird die Europaskepsis vor allem durch die AfD vorangetrieben. Was nehmen Sie im Vogelsberg wahr?

Die Vogelsberger AfD ist bis auf ihre Plakatierung relativ ruhig gewesen. Wir haben wenig davon gesehen, wie sie sich mit Europa auseinander gesetzt hat. Die üblichen populistischen Thesen, die auch von einem jetzt mit Maulkorb versehenen bundesweiten Spitzenkandidaten der AfD geprägt werden, kennen wir. Sie sind in der Regel falsch. Das fängt mit dem Wahlprogramm der AfD an, das die Europäische Union für nicht-reformierbar erklärt und im Prinzip deren Auflösung fordert. Da ist man mit dem ersten Satz bereits am Ende. Eine Partei, die sich für das Europa-Parlament bewirbt, das sie am liebsten auflösen möchte, ist eine Form der politischen Unterwanderung, um das System weiter handlungsunfähig zu machen.

Im Prinzip eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn wenn man ein System handlungsunfähig machen will, indem man behauptet, es sei handlungsunfähig – das ist Populismus in seiner reinsten Sorte. Davon kann man sich nur distanzieren.

Nach einer Studie werden große Krisen – vom Klima bis zu den Finanzen – in verschiedenen EU-Staaten unterschiedlich stark wahrgenommen. In Deutschland soll es die Migration sein, die als größtes Problem wahrgenommen wird. Was ist für Sie das Hauptthema im Europawahlkampf? Gibt es das überhaupt?

Das kommt auf das Land an, das ist die unterschiedliche Prägung. In der Vergangenheit haben wir auch schon beim Thema Atomkraft erlebt, dass da ein ganz anderer Zungenschlag in Frankreich oder Tschechien ist, als in Deutschland. Wenngleich Deutschland in der Frage der Migrationspolitik auch nicht allein dasteht, in Italien, Österreich oder Spanien ist dieses Thema auch wichtig – neben anderen Themen, je nach der unterschiedlichen Prägung und nach den unterschiedlichen Wahrnehmungen, die in einem Land jeweils herrschen.

Eine Botschaft der Europa-Union an die Parteien, die Wahlkampf machen: Was mir fehlt, ist die Zuspitzung auf bestimmte Themenkomplexe, die den Wähler am Ende davon überzeugen könnten, sein Kreuz bei der einen Partei zu machen oder bei der anderen. Wenn man sich die Wahlplakate der Parteien anschaut, bleiben sie oftmals zu sehr im Abstrakten und Allgemeinen. Aber die Leute müssen ja – und das ist auch unsere Aufgabe als Europa-Union – etwas konkret unter Europa verstehen. Sie müssen verstehen, dass das europäische Parlament und die demnächst einzusetzende Kommission wichtige Entscheidungen für ihr Leben treffen. Dabei geht es nicht nur um Agrarsubventionen. Es geht um das Thema, wie Arbeitsplätze künftig ausgestaltet werden, wo es sie zukünftig noch gibt und wie Europas Position im Welthandel ist.

Was sind aus Ihrer Sicht die wahlentscheidenden Themen im Vogelsberg?

Das ist eine schwierige Frage. An was macht der Vogelsberger seine Wahlentscheidung fest? Ich nehme wahr, dass die Menschen natürlich die Agrarpolitik, aber auch das Thema künftiges Wirtschaftswachstum – und als ein Beispiel daraus das Verbrennerverbot – umtreibt. Bei diesem Thema wird es sehr schnell emotional. Bei Diskussionsveranstaltungen werden oftmals Politiker gefragt: Sind Sie dafür oder dagegen, dass das Verbrennerverbot aufrecht erhalten wird, das die Europäische Union schon verabschiedet hat.

Das sind die Themen, die ich hier vor Ort wahrnehme. Alles andere – Frieden und Freiheit, aber auch das Thema Europa auf dem Weg zur wirtschaftlichen Modernisierung und zu mehr Nachhaltigkeit – wird von allen eigentlich als gegeben wahrgenommen.

Was kann europäische Politik für eine Region wie den Vogelsberg tun?

Sie tut schon sehr viel. Um einen Überblick für den Vogelsbergkreis zu geben, müsste man beim Vogelsberger Amt für den Ländlichen Raum eine Abfrage starten, wie viele Fördermittel in den letzten Jahren über die Europäische Union hierher geflossen sind. In Alsfeld ist ein Beispiel die geschäftliche Infrastruktur. Wir haben lokale Ökonomiemittel ausschütten dürfen, um unseren innerstädtischen Einzelhandel zu fördern. Auch die touristische Infrastruktur in Alsfeld hat profitiert: Der Wohnmobilstellplatz wurde erweitert. So gibt es im ganzen Vogelsberg – schauen Sie sich die touristischen Einrichtungen am Hoherodskopf an – zahlreiche Bereiche, in denen die Strukturförderung der Europäischen Union nachhaltige Förderung bedeutet hat.

Was erwarten Sie sich von den künftigen heimischen Europa-Abgeordneten?

Es wird natürlich wieder mehrere geben, und ich habe natürlich als CDU-Politiker auch bestimmte inhaltliche Erwartungen. Aber heute spreche ich als Europäer und erwarte von allen einen bedingungslosen Einsatz für den Frieden in Freiheit einer Europäischen Union. Haben die verschiedenen Parteien nicht, wenn es um den Vogelsberg geht, doch einige Schnittmengen? Die Schnittmengen zwischen den etablierten Parteien sind sogar größer, als man das wahrnimmt. Dass man den Ländlichen Raum in Europa stärken will, dass man auf eine nachhaltige energetische und wirtschaftliche Zukunft setzt, das sind große Überschneidungen. Es gibt aber natürlich inhaltliche Differenzen, zum Beispiel was die Ausgestaltung der Nachhaltigkeit und des Wirtschaftswachstums der EU angeht.

Europa-Union Vogelsberg - Daten, Fakten, Ziele

Die Europa-Union ist eine Bürgerinitiative, die zur Union europäischer Förderalisten gehört. In Deutschland gibt es einen Bundesverband, Landesverbände und auf Kreisebene verschiedene Kreis- und Stadtverbände. Die Europa-Union ist überparteilich, das heißt, Parteilose und Mitglieder aller Parteien können dort tätig sein. Lediglich in Bezug auf die AfD gibt es laut Stephan Paule einen Unvereinbarkeitsbeschluss. Im Vogelsberg hat die Bürgerinitiative »um die 80 Mitglieder, darunter viele institutionelle Mitglieder«, informiert Paule. So sind zum Beispiel viele Gemeinden oder Städtepartnerschaftsvereine Mitglied in der Europa-Union. »Unser Ziel ist im Großen die Werbung für den europäischen Gedanken, für die europäische Integration und für das Friedensprojekt der Europäischen Union. Im Kleinen vor Ort im Vogelsberg ist es natürlich die Bildung, die Information, insbesondere im Vorfeld von Europawahlen, sowie das Durchführen von Studienfahrten, die Jugendarbeit und Arbeit mit Schulen, um über Europa und seine Institutionen aufzuklären und zu informieren«, so Paule. (cl)